Teure Teile in schlampiger Verarbeitung sind besser als man denkt

Image by Margaret Darms

In diesem Beitrag experimentiere ich mal und stelle dir eine einfache, aber hinterlistige Frage. — Beantworte die Frage für dich nur in Gedanken. Denn das Ergebnis kann man, auf die eine oder andere Art, auf fast alle Projekte übertragen.

Nehmen wir an, du willst dein Haus oder deine Wohnung neu einrichten. Was wäre dir dabei lieber? Eine vom Fachmann aufwendige, millimetergenaue und präzise ausgeführte Wertarbeit aus minderwertigem Billigmaterial und billigen Teilen?

Oder eine von Amateuren weniger genaue, etwas nachlässig gemachte Einrichtung, aber aus allerbestem und solidem, teurem Material oder hochwertigen Teilen? Beides gibt es in der selben Zeit für den gleichen Preis. Der Stil, sprich die gesamte Einrichtung ist auch die selbe. Und alles funktioniert soweit und entspricht gerade so den gängigen Normen.

 

Jetzt kannst du nur zwischen diesen beiden Extremen wählen. Was nimmst du?

Ich gebe dir meine persönliche Antwort gleich vorne weg: Ich würde eindeutig letzteres wählen. Also den „Pfusch“ aus hochwertigem Material. Schon rein aus Überzeugung.

Warum ich mich für die nachlässig verarbeiteten Top-Materialien entscheiden würde, hat mehrere Gründe, die ich hier kurz mal aufzähle:

  • auf den ersten Blick sieht beides gleich aus und erfüllt seine Funktion
  • hochwertiges Material lässt sich nicht völlig schlecht verbauen, damit schwindet der sichtbare und fühlbare Unterschied zur anderen Variante auf ein Minimum (Kein Besucher würde die schlechte Verarbeitung bemerken. Schlechtes Material schon.)
  • ich will einfach nur wohnen und nicht täglich alle Fugen zehntelmillimetergenau nachmessen
  • beim ‚Pfusch‘ mit gutem Material kann man notfalls immer noch nachbessern, und zwar schnell und ohne dass eben dieses Material, da es ja hochwertig ist, darunter leidet
  • beim Billigmaterial, so perfekt es auch verarbeitet wurde, treten schnell Materialermüdung auf, es geht trotzdem eher kaputt oder es verformt sich bei häufiger Benutzung bis zur Funktionsuntüchtigkeit. Nachbessern bringt hier nichts und es muss wiederholt eingebaut werden. Dadurch wird es mittel- und langfristig eher teurer als bei der anderen Variante.
  • Gutes Material ist auch bei schlechterer Verarbeitung solider und passt sich durch die Benutzung – trotz „Schieflage“ mit der Zeit ein.
  • Niemand, auch kein Amateur, baut totalen Mist. Falls doch, fällt es sofort auf oder genauso schnell wieder zusammen. Bekommt man eine Garantie gewährt, passiert der Fall noch während dieser Zeit und seltener danach. Beim perfekt verarbeitetem Billigmaterial kommen die Probleme erst nach der Garantiezeit.

Ich sehe es so: Bei der von mir gewählten Variante mit Top-Material und ’nachlässiger‘ Verarbeitung wird aus meiner Sicht (als „Bewohner“) beim Mobiliar nicht an der falschen Stelle gespart wie bei der anderen Variante mit korrekt gebautem, aber minderwertigem Werkstoff. Wieso? Das lernen wir von der Industrie:

Große Konzerne machen häufig genau den Fehler, den ich vermeiden würde. VW zum Beispiel will Premiumfahrzeuge verkaufen. Die Fahrzeuge sind – weltweit verglichen – nach den höchsten Standards akribisch entwickelt und präzise gebaut. Die Ingenieure im eigenen Haus sind stolz auf sich. Aber dem Kunden nützt das herzlich wenig wenn diese exakt verarbeiteten Spielzeuge kaputt gehen oder falsche Werte vorgaukeln. (Hier ist es nicht nur das Material, sondern vor allem die Komponente in ihrer effizientesten, aber kundenfeindlichsten Form.)

Überspitzt ausgedrückt, die Kunden bekommen perfekt verarbeiteten Schrott. Solche Anbieter (da gibt es mehrere) benehmen sich wie der berüchtigte Chirurg, der die Operation als gelungen (technisch ausgewichst) feiert, während der Patient schon tot (Kunde vergrault) ist.

 

Was bedeutet das für Macher und Kreative?

Gut, Industrieprodukte und persönliche Vorhaben sind nicht dasselbe. Aber das Ursache-Wirkungs-Prinzip lässt sich nicht überlisten. Das gilt für den Koch genauso wie für den Gehirnchirurg. Das Essen muss genauso gelingen (und schmecken) wie die Operation (mit lebenden Patienten).

Den Deutschen (Angestellten) und besonders denen in der Industrie wird anerzogen, höchste Ansprüche an sich zu stellen. Dabei verleitet ein immer höher werdender Leistungsdruck zum Bescheißen anstatt zu besserer Kundenzufriendenheit. Und wenn du dann die Werbung siehst, dann wirst du das Gefühl nicht los, dass du verarscht wirst.

Eines ist klar, Perfektion ist nicht machbar und Stolz ist tödlich. Also sollte man ehrlich zu sich und anderen sein.

Es gibt Autoren, die ein Buch oder einen Film nie fertig bekommen. Das Kunstwerk ist ständig „im Werden“. So lange wird nicht geliefert. Oft nie. Werke von Künstlern, Kommerzielle Konzepte oder private Projekte müssen nur eines sein: Gut genug sein, um den zu überzeugen, der damit angesprochen werden soll. Dafür braucht man viel Geduld — wieder mit sich und mit anderen.

Gut genug heißt nicht, dass es mit der heißen Nadel gestrickt und dann fehlerhaft (oder unvollendet) auf den Markt geschmissen wird. Sondern es muss komplettiert und in der für den potentiellen Interessenten entscheidenen Eigenschaft herausragend sein. Der Rest geht unter ferner liefen.

Kreativität und Produktivität brauchen die richtige Bausubstanz, die richtige Basis. Das heißt, der Kern, um was es eigentlich geht, der muss stimmen. Nachbessern kann man immer noch. Oder besser noch: Das unvollkommene oder fehlerhafte als Inspiration für Neues nehmen. Aber das wesentliche muss, wie gutes Ausgangsmaterial, da sein.

Im anderen Fall wäre es so, als wenn man ein Qualitätshaus mit anfälligem Material mit großem Arbeitsaufwand auf sumpfigem Untergrund baut. Oder ein komplexes Auto produziert, das an der falschen Stelle so komplex ist, dass es schon wieder verboten gehört.