Wenn jemand, vielleicht auch du, von der Norm, also einer klassischen Angestelltenkarriere abweicht, eine längere Anlaufphase für sein Lebensziel braucht oder gerade nichts neues vorzuweisen hat, dann will er keinen sehen. Erst recht keine alten Klassenkameraden. Und überhaupt, wieso sollte man mit Leuten feiern, die man noch nie leiden konnte?
Als Abweichler – falls du hoffentlich einer bist – hast du es nicht leicht, dich zu rechtfertigen oder zu erklären, warum du vielleicht noch nicht den sozialen Status – besser, die gesellschaftlich anerkannte Norm – erreicht hast, wie gleichaltrige.
Damit meine ich solche gleichaltrigen, die man von früher aus der konformistischen Vergleichsorgie „Schule“ kennt.
Nehmen wir an, du hast – wie ich – die letzte Einladung zum Klassentreffen ohne mit der Wimper zu zucken ausgeschlagen. Allein die Vorstellung, sich gegenüber ehemaligen ‚Schulkameraden‘ mit deren typisch subtilen Konkurrenzgehabe messen zu müssen ist abstoßend. Und dann diese Fragen, nach denen man sich rechtfertigen muss:
„Was machst du jetzt eigentlich?“; „Kann man davon leben?“; „Wohnst du noch hier?“; „Fährst du immer noch mit Opa’s Auto rum?“;
Oder nach ein paar Drinks und einen Zacken schärfer: „War wohl nichts mit Amerika oder?“; „Wie? Du wohnst noch hier? Ich dachte du wärst vor 25 Jahren nach Australien ausgewandert? Hmm.“ Oder die volle Breitseite: „Also mein Sohn lebt in Cupertino und sitzt jetzt im Vorstand von Apple. Warst du nicht auch mal in Kalifornien?“
Fakt ist, die meisten, also fast alle, die dort aufkreuzen, haben ähnliche Karrieren vorzuweisen. Vorzeigeerfolge. Da sitzt der geballte Stolz hinter einer Fassade von 20 bis 50 Leuten. Und der altkluge Klassenliebling sitzt selbstzufrieden am großen Tischende. (Kann ich mir bildhaft vorstellen.)
Es findet ein Schaulaufen von Erziehungserfolg und Anpassung statt. Frei nach dem Motto: Wer sich am besten anpasst, der hat es geschafft. Und du kommst dir vor, wie ein dummer Junge. Oder wie ein dummes Mädchen, dass sich noch zusätzlich blöde Fragen anhören muss, wie: „Wie, du lebst (noch) allein?“ oder „Stört es dich noch, dass dein Ex-Mann meine Tochter geheiratet hat? Es ist nicht deine Schuld, es war ja seine Wahl. Er tut ihr richtig gut!“
Es gibt auch Klassentreffen, die man nicht vermeiden kann. Beispiel?
Angenommen du wirst durch irgend einen Umstand in eine ländliche Gegend, vielleicht ins beschauliche Alpenvorland nach Bayern*, eingeladen. Dort triffst du auf Leute, die du noch nicht kennst. Was meinst du, was die dir fragen?
„Was machen Sie beruflich?“ — Wenn du jetzt was von Künstler, Entrepreneurship oder von anderen ausgefallenen Visionen erzählst, dann heißt das „gar nichts“. Das führt automatisch zur nächsten Frage:
„Was machen Ihre Eltern?“ — Für die ist nicht wichtig, wer du bist. Eher, was du bist, durch das, was du machst und wo du herstammst. Die wollen, diplomatisch ausgedrückt, deinen Background erkunden, um dich in ihr Weltbild einzuordnen.
Ein perfekt angepasster Mensch, also ein Langweiler, hätte keine Probleme damit. Denn er hat sein Leben genau auf diese Fragen hin angepasst. Er denkt genauso wie die Fragesteller. Aber er denkt anders als du. Das heißt, selbst wenn er dasselbe Wort benutzt wie du, meint er womöglich ganz was anderes.
Künstler und Entrepreneure kennen solche Begegnungen und Erfahrungen im Umgang mit Klassentreffen oder konservativen Untertanen. Aber dieses Dilemma dreht sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ab einem bestimmten Zeitpunkt ins Gegenteil um. Dann trifft man gerne solche Leute. Um sie zu schockieren.
Spaß beiseite. Du fühlst dich einfach wohler, wenn du dein Ziel ein Stück weit erreicht hast. Und vor allem wirst du merken, dass du plötzlich bewundert wirst. Aber nicht wegen irgendwelcher Statussymbole oder dein Einkommen. Nein, das haben die selber. Die bewundern dich, weil du dir selbst treu geblieben bist. Du hast dein Ding gemacht, ohne dich für eine Karriere verbiegen zu müssen. Du lebst ein Leben, das die nie haben können. Du bestimmst, was und wie du was machst. Das bewundern die.
Wenn es soweit ist, dann genieße es. Du hast es verdient. Und falls du dich schon etabliert hast oder deinen Traum lebst, dann weist du, dass ich weiß, wovon ich rede.
*) Nichts gegen Bayern, es dient hier nur als mustergültiges Beispiel. Bayern ist wunderschön. Bayern ist herrlich.