Typisch deutsch
Im deutschen Internet laufen die Dinge anders. Ich als Blogger habe das auf die harte Tour gelernt. So etwas, wie eine ‚Blogosphäre‘ gibt es im deutschsprachigem Netz nicht. Was gibt es dann?
Es gibt sogenannte Communities, wie in Foren oder einigen Websites traditioneller Medien, wo Austausch und Kommunikation stattfinden. Und es gibt Blogs und Social-Media-Accounts mit gegenseitiger Vernetzung und einer mehr oder weniger aktiven, aber größtenteils passiven Anhängerschaft („Following“). Das ist schon mal gut.
Aber mal ehrlich, eine Blogosphäre wie im englischsprachigen Netz hat es hier bis heute nicht gegeben. Dafür sind die Mentalitäten zwischen englisch- und deutschsprachigen Gesellschaften zu unterschiedlich.
Als soziales Wesen gesellt sich der Mensch zu seinesgleichen. Aber die jeweilige Sichtweise darauf, wer zu wem gehört. ist in unterschiedlichen Gesellschaften – traditionell (oder historisch) bedingt – ebenso unterschiedlich.
In den USA, wo das Bloggen seinen Anfang nahm (und es auch pro Kopf viel mehr und vor allem besser vernetzte Blogs gibt als hier), ist das eher, wie mit den ersten Siedlern auf dem neuen Kontinent. Man hilft anderen, weil es selbstverständlich ist. Und zwar ohne zu erwartende Gegenleistung. Und es spielte nie eine Rolle, ob jemand mit 100 Mann als Anhang ankam und einen einzelnen um Hilfe bat oder umgekehrt. Mehr noch, man muss nicht mal um Hilfe „betteln“, man half und hilft auch so.
Wie gesagt, gegenseitige Hilfe ohne zu erwartende Gegenleistungen ist selbstverständlich. Ich habe es auf meinen früheren Auslandsaufenthalten – noch vor dem Internet-Zeitalter (mich gab’s da schon) – auf verschiedene Arten selbst immer wieder erlebt.
Bleiben wir beim Bloggen. Bloggst du auf Englisch, dann kannst du wie selbstverständlich mit jedem Blogger, der dir genehm ist, eine Beziehung aufbauen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der eine neu und unbekannt ist und der andere bekannt und etabliert. Er sieht dich als seinesgleichen.
Verständlicherweise spielen etablierte Power-Blogger („Großblogger“) da eine Sonderrolle, in derer sie sich nicht mit jedem beschäftigen können. Obwohl ich weiß, dass ich von einem Seth Godin oder einem Derek Halpern innerhalb von wenigen Stunden eine ausführliche, freundliche und auf jeden Fall persönliche Antwort auf eine per Email gestellte Frage bekommen würde.
Es gibt auch bekannte, etablierte und erfolgreiche Qualitäts-Blogger in Deutschland und in Österreich, die ich persönlich sehr schätze, die gern helfen und die ich gerne mal in Natura kennen lernen würde. Obwohl diese ganz andere Leser bedienen als ich. Diese Ausnahme-Blogger sind Glücksfälle und bestätigen die Regel. Aber trotzdem:
Was ist vor allem hier in D-Land anders als woanders? Und warum?
Zum einen gibt es (leider begründete) Skepsis gegenüber hilfsbereiten Zeitgenossen und generell allem, was mit „Gefallen tun“ zu tun hat.
Und zum anderen gibt es hier das mittelalterliche Stände-Denken, das fast jedem, der Deutsch als Muttersprache spricht, in Fleisch und Blut und bis auf die Knochen übergegangen ist. Komischerweise hat das Internet und die Art des Bloggens nichts mit dem Mittelalter zu tun, außer sich sozial auszutauschen.
Nicht umsonst gelten Deutsche in den Augen von Expats (Ausländer, die – z.B. berufsbedingt – vorübergehend in D leben) als anti-sozial. Beispiele:
Gymnasiastenkinder sind nur mit anderen Gymnasiasten befreundet. Unternehmer sind nur mit Unternehmern befreundet. Doktoren sind nur mit Doktoren befreundet. Elite-Uni-Abbrecher sind nur mit Elite-Uni-Abbrechern befreundet. Großblogger sind nur mit Großbloggern, Kleinblogger nur mit Kleinbloggern befreundet. Prominente Künstler sind nur mit bekannten Künstlern und unbekannte Künstler nur mit armen Künstlern befreundet. Beamte sind nur mit Beamten befreundet, Erben sind nur mit Erben beschäftigt befreundet, Aussendienstler sind nur mit Aussendienstlern befreundet, Lehrer sind nur mit Lehrern befreundet. Maschinenbauingenieure sind nur mit Maschinenbauingenieuren befreundet und Harz 4-Empfänger sind nur mit Hartz 4-Empfängern befreundet.
Das hat nichts mit einer Weltsicht zu tun, wie sie bestimmte Gruppen (sozialübergreifend) teilen. Sondern mit dem Status der Herkunft, also aus welchem Teil der Gesellschaft man kommt. Alles andere ist hierzulande „fremd“ und damit „falscher Umgang“.
So gibt es nicht nur keine deutsche Blogospäre, sondern auch keine deutsche Gesellschaft als Solche. Es gibt Stände und Cliquen, Klassen und Misstrauen. Online wie Offline. Jeder hält sich für „größer“ und „besser“ als den anderen.
Dieses Phänomen ist weltweit einmalig. Es ist typisch deutsch. Ich würde das all zu gern ändern. Aber dieser Änderungswunsch scheint genauso machbar zu sein, wie das Veranstalten einer öffentlichen Weinverkostung in Saudi-Arabien. Was mache ich statt dessen?
- Den Dreck der schlechten Erfahrungen abklopfen und weiter gehen.
- Nach Leuten recherchieren oder fragen, mit denen man gemeinsam mehr erreichen kann.
- Meinen Leser-Fokus extrem schärfen und einengen.
- Ein englischsprachiges Parallel-Projekt starten.
- Ein Bier trinken mit Leuten, die sich freuen, wenn sie mich sehen.
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