„Hör auf! Die Leute gucken schon.“

Den Spruch kennt man, wenn einer im öffentlichen Raum aus der Reihe tanzt und ein Angehöriger ihn zurechtweist. Die Mutter macht das mit ihrem Kind und die Frau mit ihrem Ehemann. Manchmal machen das sogar Männer untereinander.

Dabei trägt derjenige, der den anderen zurechtweist, ein Ausrufezeichen im Gesicht. Denn die Lage ist ernst. Leider.

Scheinbar befolgt einer die Regeln nicht, die eine angehörige und allem Anschein nach übergeordnete Person aufstellt.

Gesellschaftliche Regeln verführen dazu, auch in den Bereichen des täglichen Lebens nach weiteren Regeln zu leben, wo dies eigentlich unnötig und sogar störend ist. Diese Extra-Regeln sind hausgemacht, weil man in Systemen denkt.

Deutsche sind von Regeln besessene Systemdenker. Das weiß jeder in der Welt, der es einmal mit Deutschen zu tun hatte. Und wenn ein Deutscher entgegen seiner Natur doch mal eine Regel übertritt, so bereitet es ihm Unbehagen, was man ihm durchaus ansieht. Dann wirkt er hölzern und ungeschickt. Bestenfalls gekünstelt. Irgendwie wartet er schon darauf, dass er zurechtgewiesen wird. Aber zumindest hat er immer das Gefühl, misstrauisch beäugt zu werden.

So einer erlebt einen imaginären Interessenkonflikt. Daher muss jemand, der hierzulande auffallen oder aus der Reihe tanzen will, sich erst einmal unauffällig einreihen. Das heißt, die Andersartigkeit (wenn man sie so nennen will) muss von oben organisiert, einem Regelwerk unterworfen und von der Gesellschaft explizit erlaubt sein. (Gutes Beispiel: Karneval.)

Bestimmt konntest du das auch schon alles mal beobachten. Aber was ist, wenn du willst, dass die Leute gucken?

Dann hast du oft gar keine andere Wahl, als sowohl die öffentliche Ordnung als auch die Ordnung deines Angehörigen (oder „Vormundes“) zu stören.

Eigenständige Personen tun das. Und eigenständig zu sein bedeutet hierzulande Regeln zu brechen. Andauernd.

Paradoxerweise werden diese eigenständigen Personen auch von Leuten bewundert, die streng darauf achten, dass sie und ihr Anhang nicht auffällt oder Regeln bricht.

Falls dies noch nicht geschehen ist, kommt schnell diese Frage hier auf: Wie wird man in solchen Umständen eigentlich eigenständig?

Kurz, indem man dem Konflikt für eine Weile umgeht. Das ist der Konflikt mit dem Ehepartner, dem Chef (oder Vorgesetzten bzw. Kollegen), den Lehrern und der eigenen Wahrnehmung. Aus all dem muss man (oder musst du) nur Stück für Stück heraus kommen. Nur wie genau machst du das, ohne dir gleich den eigenen Ast abzusägen oder „geliebte“ Menschen zu brüskieren?

Das geht, indem du in zwei Welten lebst.

Die eine Welt ist die des scheinbar Angepassten, die der grauen Maus. Dort spielst du solange mit, wie du es noch brauchst. Die andere, zweite Welt ist die der Freiheit und Eigenständigkeit. Das ist die Welt, der du dich hinwendest und die du parallel allmählich aufbauen kannst, indem du ihr zunehmend Raum gibst. Dieser Welt „zunehmend Raum zu geben“ bedeutet nichts anderes als Tatsachen zu schaffen. Nach und nach. Eine Tatsache nach der anderen.

Während du das tust, folgst du deinen Interessen und Neigungen. Dadurch ziehst du andere Menschen an, als die, die dich einbremsen wollen. Aber letztere interessieren sich nicht für deine Interessen und Neigungen. Deshalb kannst du deren „Aufmerksamkeit“ mit etwas Geschick eine Zeit lang aus den Weg gehen und somit ungestört Tatsachen schaffen.

Du etablierst dich außerhalb des Einflussbereichs derjenigen, die dich zurechtweisen könnten.

Je mehr Tatsachen du schaffst, umso besser wird deine „Verhandlungsposition“ gegenüber jeden, der dir jede Eigenständigkeit – aus welchem Grund auch immer – absprechen will.

Wenn du das durchziehst, wirst du verwundert feststellen, dass du bald kaum noch eine „Verhandlung“ nötig hast. Denn diejenigen, die dich ursprünglich an ihre Regeln binden und damit deiner Eigenständigkeit berauben wollten, werden dich – oh Wunder –  bewundern. Und das in zunehmenden Maße.

Dann ist denen alles klar. Dann wollen auch sie, dass die Leute gucken. Manchmal sogar mehr als dir lieb sein wird.