Als ich Mitte der Neunziger eine Kneipe hatte, da waren mir nicht alle Gäste sympathisch. Einige fordernde, klauende, unhöfliche und aggressive Deutsche habe ich entweder falsch-freundlich abgeschreckt oder rausgeschmissen. Ein paar kamen hartnäckigerweise wieder. (Deshalb sind sie noch lange keine Freunde.)
Andere habe ich von sehr weit her angelockt. Und sie waren willkommen.
Es gab zum Beispiel [mehr oder weniger] häufig gezielte Motorradtouren zu mir, da ich auf einschlägigen Treffen (manchmal) selber anwesend war. Mann kannte sich teilweise. Einigen lokalen Gästen (und Nachbarn) war das schon unheimlich, mir aber scheißegal. Die beschwerten sich – ohne Ergebnis. Das Geblubber war nicht zu überhören.
Fakt ist: Ich habe jeden Gast unterschiedlich behandelt. Obwohl man das angeblich nicht tun soll. Ich behauptete gegenüber einen einheimischen Stammgast damals, dass ich jeden Gast gleich freundlich behandele. Das war gelogen. O.K., ich tat ein bisschen freundlich mit einem diabolisch wirkenden Grinsen. Ungefähr so:

In der Nähe des Lokals waren zwei Großbaustellen. Dort arbeiteten viele Österreicher, Engländer, Schotten, Iren, Walisen, Kanadier, Aussies und Kiwis. Letztere führten bei mir hin und wieder sogar einen professionellen Haka vor, was eine regelrechte Attraktion war.
Nach und nach stellte ich mein Angebot um. Es gab English Breakfast, Fish n‘ Chips, Stout, Ale, mehr Whisky, Vegemite/Marmite und Rum und kostenlose Erdnüsse für die Österreicher. Letztere durften sich ihr Bier sogar selber zapfen (das schmeckte denen so gut) und die Musikanlage (hinter der Bar) bedienen. Das war im Grunde keinem erlaubt. Mir aber egal. Meine Gäste, meine Freunde. Einer der Österreicher besorgte mir sogar kostenlos Tische und Stühle. (Waren wie neu.)
Die Aussies haben immer nur Freitags bezahlt, also anschreiben lassen. Australier sind generell vertrauenswürdig. Aber auch schnell beleidigt, wenn man Ihnen mistraut. Daher waren sie von sämtlichen Gästen die einzigsten Anschreiber und haben immer pünktlich und unaufgefordert bezahlt. – Alle gleichzeitig.
Die Norweger brachten als Geschenk die Deko für meine kahle Wand mit: Eine riesige norwegische Flagge komplett mit Halterung und Werkzeug. Die hängt dieser Tage bei mir Zuhause.
Wenn von meinen Gästen jemand Probleme hatte, war ich die erste Ansprechperson. Nicht nur in der Bar. Wenn Papiere oder (Reise-)Dokumente verloren gingen, dann half ich. Ich war Dolmetscher und Ratgeber. Bei medizinischen Dingen war es ähnlich. Wenn ein Auto kaputt war, dann fuhr ich (häufig die Schotten), organisierte Reparaturen und die Unterkünfte für deren Freunde. Da viele Einheimische (deutsche Angestellte und Freunde) Probleme mit dem Englisch und deren Kulter & Mentalität hatten, habe ich vieles selbst erledigt.
Die Engländer wollten eine Überraschungs-Geburtstagsparty mitten auf der Baustelle feiern. Ich hab beim Bäcker eine Spezialtorte nach meiner Zeichnung anfertigen lassen, die von einem Kran Hollywood-reif herabgelassen werden konnte und wurde. (Mein erster Erfolg als Tortendesigner!)
Für die Schweden habe ich eine gebrauchte Tiefkühltruhe hingestellt (für Eiskrem und Snus) und die ständigen Puffbesuche organisiert. Im Gegenzug haben die auf Bestellung schwer erhältliche alte Harley-Ersatzteile rangeschafft, die ich weiterverkaufen konnte. Die kamen öfter. (Ich kannte schon vor der Lokaleröffnung einige von denen, aber nicht alle.)
Ein kroatisches Ehepaar hat mir hervorragende Weine besorgt, die extrem beliebt waren. Davon habe ich ganze Kisten (auch an andere Restaurants) weiterverkauft. Wenn die kamen, habe ich sie zuerst (persönlich, ich hatte Aushilfen) bedient, egal wie voll der Laden war und wie lange andere Gäste dafür warten mussten. Ich hab mich dann noch mit an den Tisch gesetzt und mich heiter und gelöst in aller Seelenruhe über Wein und Geschäfte unterhalten. Sie hätten die Gesichter der anderen Gäste sehen sollen! (Aber ich habe viele Tips und Inspirationen bekommen.)
Wenn die Niederländer kamen, duften auch die sich wie zu hause fühlen. Das meine ich wörtlich. Die waren lustig, spendabel und hatten bei mir Sonderstatus. Wenn die da waren, roch es förmlich nach Entspannung und guter Laune. Sie brachten immer genau das mit, was alle haben wollten. So billig, es war fast umsonst.
Kanadische und US-amerikanische Bauunternehmer habe ich zu deren Baustellen gebracht und die Welt neu erklärt. (Die kamen einfach nicht klar hier in D.) Die haben mir weitere Gäste geschickt, für die – wenn sie kamen – ich den Laden sogar länger offen ließ und auf Schlaf verzichtete. Die litten unter einer doppelten Plage: Jetlag und Durst.
Mr. Kim (er nannte sich selber so – auch mir gegenüber), ein junger koreanischer Backpacker, der vom Verkauf von Bildern seinen „East-Germany-Educational-Leave“ finanzierte, hatte bei mir eine Zeit lang seine Basis und durfte machen, was er wollte. Der fühlte sich zuerst etwas unsicher und war noch verwunderter als die Nordamerikaner. Aber er entspannte sich nach und nach immer mehr und fühlte sich schnell wie zu hause. (Er schnappte dann den anderen Gästen mit den Händen das Essen vom Teller weg, wobei einige richtig wütend auf ihn wurden. Mr. Kim hat selbst dafür gesorgt, dass das Problem schnell gegessen war.)*
Für die Iren war ich der Bürgermeister. Ich habe noch nie einen Iren erlebt, der respektlos war oder sich beschwert hat, selbst wenn er Grund dafür gehabt hätte. Die konnten sogar mit den Deutschen gut, trotz einiger Sprachhürden. Da ich weiß, wie die arbeiten (hart), bediente ich sie persönlich besonders schnell und zuvorkommend. Wenn sie mal (geduldig) warten mussten, weil es voll war, dann bekamen sie von mir die ersten Getränke kostenlos. Außerdem habe ich denen geholfen, als sie es mal mit der Polizei zu tun hatten.
Dieses Lokal betrieb ich ca. 4 Jahre lang und es war wie ein kleiner, bunter Planet. Oder sagen wir Warenumschlagplatz. Ich habe das geliebt und gelebt. 24 Stunden. Man konnte von leben, ja. Allerdings war es irgendwann vorbei mit den Baustellen, die Leute kamen nur noch als Touristen oder Biker. Ein Teil der einheimischen Gäste blieb aus, denn die hatte ich vergrault. Bevor es noch mehr bergab ging, verkaufte ich den Laden an einen türkischen Geschäftsmann.
Mit vielen Ex-Gästen habe ich noch Kontakt. Einige habe ich auch besucht. Wenn ich irgendwo hinfahre, dann brauche ich selten ein Hotel. Kein Witz.
Als ich die Kneipe noch betrieb und völlig fremde aus dem Ausland ankamen, wussten die bereits über mich und das, was hier abging bescheid. Woher? Von den anderen, die vorher bei mir waren. Neue Gäste aus der Ferne wussten, dass ich ihr Mann bin und wo sie mich finden konnten, die brauchten sich um nichts zu sorgen. Ich wiederum brauchte mir in jenen Tagen auch keine Sorgen um neue (Stamm)Gäste machen.
Diese verrückte Kneipe ist Vergangenheit und es war ein anderes Geschäftsmodell, aber ich bin immer noch der Alte. Also, wenn ich was für Sie tun kann, schreiben Sie mir! Dazu müssen Sie nicht zwangsläufig warten, bis Sie Ihre Ladung Klokain bestellt haben. Mr. Kim hat eine Weile gebraucht, bis er seinen ersten Kaffee bei mir getrunken hat. Er war für mich wie die anderen hier erwähnten Gäste in erster Linie ein Freund.
Zu häufig passiert es noch, dass Kunden tatsächlich als notwendiges Übel zur Umsatzgenerierung oder nur als unpersönliche „profit center“ gesehen werden. Leider. Dann stimmt was mit dem Unternehmen nicht, oder besser gesagt, mit dem Unternehmer.
*Mr. Kim erklärte uns, dass man sich In Korea gewöhnlich beliebig von verschiedenen Tellern sein Essen zusammen „fischt“. Jeder darf auch auf seinem Teller zugreifen. Das ist in Korea ein Zeichen von Wohlbefinden und familiärer Atmosphäre. — Hab‘ ich wieder was dazu gelernt. — Die anderen Gäste akzeptierten die Spielregeln: Ein Biker aus Brandenburg kam dann von seinem Tisch rüber zu Mr. Kim und schnappte ihn jedes Mal das ganze Schnitzel weg — samt Beilage….
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